Und wo bleibt der Mensch?

Lieber Hannover, liebe Hannoverin: So möchte man die Stadtoberen Hannovers am liebsten hochnehmen, die ihren Beamten (und Beamtinnen?) geschlechtergerechte Sprache verordnet haben (siehe «Stern des Anstosses» in der Mittwochausgabe). Sie verlangt das Gendersternchen oder den Gendergap bei Kolleg*innen und Kolleg_innen, weil man ja nie weiss, welche Identitätsvariante der/die Angesprochene denn nun hat. Wir sind bereits bei LSBTTIQ angelangt, überholt ist die schlichte Frage, ob auch Frauen Leserbriefe schreiben, ob also mit «der Leser» auch Frauen mitgemeint sind. Das behaupten wir Männer, das verneinen zumeist Feministinnen. Warum überhaupt? Wo liegt das Problem?

Das Problem rührt daher, dass grammatisches Geschlecht (Genus) und biologisches Geschlecht (Sexus) verwechselt werden. Das begann in den 1940ern mit den Sprachforschern Sapir und Whorf. Ihre Hypothese besagte, dass die Art und Weise, wie ein Mensch seine Umwelt wahrnimmt und wie er denkt, durch den Wortschatz und die grammatischen Strukturen seiner Muttersprache geprägt ist. Sie ist längst widerlegt worden, bekommt aber wieder Aufwind.

Das Deutsche hat drei grammatische Geschlechter für Personen und Dinge, das Französische zwei, das Englische praktisch nur noch eines, Ungarisch und Türkisch gar keines, andere Sprachen bis zu zwanzig. Sehen Ungarn die Welt sächlich und wir geschlechtergetrennt? «Der Baum» ist genau so wenig männlich wie «der Bäcker», der schlicht eine Person bezeichnet, die Brote bäckt. «Der Mensch» ist ebenso wenig männlich wie «die Person» weiblich und «das Mitglied» eine Sache. (Drum bitte Vereinsmitteilungen nicht mit «Liebe Mitglieder und Mitgliederinnen» beginnen.) Die Natur kennt nur zwei Geschlechter, die deutsche Grammatik drei. Sie teilt auch dem Ungeschlechtlichen ein Geschlecht zu – der Staubsauger ist kein Mann. Das Weib ist keine Sache, die Tunte keine Frau. Mehrzahlbezeichnungen wie «die Leute» oder «la gente» sind nicht weiblich. Warum haben die Römer den Seemann «nauta» genannt, den Bauern «agricola», den Dichter «poeta»? Fragen Sie Ihren Arzt/Ihre Ärztin oder Ihre*n Apotheker_in zu den Nebenwirkungen politisch verordneter Sprachgerechtigkeit.

Wer bei Bezeichnungen für Berufe oder Tätigkeiten auf die Nennung beider Geschlechter pocht, betont das biologische Geschlecht, wo es nichts zu suchen hat. Das Maskulinum ist generisch, also allgemein, geschlechtsunabhängig. Auch das Femininum kann generisch sein: Den zwei, drei Studenten im Kindergärtnerinnenseminar käme es nicht in den Sinn, es umtaufen zu wollen. Wenn wir andauernd beide Geschlechter nennen, verändern wir die Wahrnehmung und betonen das ausdrücklich Männliche und das ausdrücklich Weibliche. Als die feministische Linguistin Luise F. Pusch zum Binnen-I schrieb, «es geht in erster Linie darum, Frauen sichtbar zu machen», hielt sie sich bei BankerInnen, AbzockerInnen, StraftäterInnen zurück. Und wie bitte sollen wir Delinquent/in oder Kandidat_inn_en aussprechen? «Sprachspiegel»-Redaktor Grietje Mesman warnt: «Je konsequenter ‹geschlechtergerechte› Formen verwendet werden, desto mehr könnte sich die Ansicht durchsetzen, wo das Maskulinum stehe, kämen immer nur Männer vor. Dann hätten die ‹Aktivist*innen› den Zustand herbeigeführt, den sie beklagen und bekämpfen.» So schreibt der Mieterinnen- und Mieterverband Schweiz konsequent von Vermietern. Auch das beliebte Partizip bietet keine Lösung: Ein Rauchender ist kein Raucher, sondern jemand, der gerade am Rauchen ist; ein Studierender hat keine Freizeit, ein Student schon.

Sprachen haben sich stets weiterentwickelt und sich vereinfacht, Gendering will das Gegenteil. Altenglisch kannte noch zwei Mehrzahlpronomen, «hie» (männlich) und «heo» (weiblich), das heutige «they» meint Männer wie Frauen. «War ein englischer Dorfbewohner im Mittelalter also gender-sensibler als ein heutiger Amerikaner?», fragt der Sprachwissenschafter John McWhorter. Die Académie française kämpft gegen Auswüchse der «écriture inclusive» wie «cher.e.s ami.e.s» – auch weil sich die Blinden gegen die Punkteschwemme in der Braille-Schrift beschwert haben.

Die Sprache soll sich gefälligst ändern, damit die Machtverhältnisse in der Gesellschaft sich ändern. Schön wär’s. «Der permanente Fokus aufs Geschlecht verformt unser Verständnis des Menschen», schrieb Claudia Mäder kürzlich in der «NZZ». Der Philosoph Philipp Hübl sagt es deutsch und deutlich: «Statt an der Sprache sollten wir vielmehr an unseren Rollenbildern arbeiten.» Und erinnert an ein «bisher unvollendetes Projekt: die Gleichstellung von Frau und Mann». Schön wär’s.

Dieter Langhart, 18.2.2019